Ironie des Suchens: Wissen 2.0 in der Bratpfanne
Alles begann ziemlich harmlos. Seit ein paar Wochen liegt ein Beitragsentwurf in meinem WordPress, das da heißt: „Ironiezeichen“. Das Satzzeichen hat jeder schon einmal gesehen und wahrscheinlich nicht weiter darüber nachgedacht. Nichts ahnend, begann ich zu recherchieren. Heraus gekommen ist nun eine barsche Kritik am Umgang mit Quellen im Web 2.0. Mit der „Akte Ironiezeichen“ möchte ich in aller Ausführlichkeit einmal aufzeigen, wie schnell Zusammengeschnipseltes zum Allerweltswissen werden kann. Generalisieren möchte ich nicht, sondern mit dem Beispiel denken.
Gespiegeltes Weltwissen
Das spiegelverkehrte Fragezeichen ist für mich Grund genug, zu recherchieren, was es mit der gesetzten Ironie so auf sich hat. Einzige Bedingung: Allein über das Netz möchte ich verläßliche Quellen aufspüren, um meinen Beitrag damit zu belegen. Dann begann, was mein Bild vom ‚Wissen im Netz‘ kräftig durchrütteln sollte: Enttäuschung auf ganzer Linie. Digitale Wissensvermittlung á la Stille Post? Wie schnell gehen da Quellen, Daten und Fakten verloren. Wie von Zauberhand scheint sich eine Art ‚kanonischen Wissens‘ zu entwickeln, was vielleicht digital überliefert, jedoch wenig fundiert ist. Sollte das gepriesene Weltwissen etwa an der Ironie scheitern?
Wikipedia-Eintrag
Zuerst bemühe ich Google und suche nach dem Ironiezeichen. Der erste Eintrag verweist auf Wikipedia. Hier erfahre ich: „Das Ironiezeichen ist ein vorgeschlagenes, aber kaum verwendetes Satzzeichen, mit dem die ironische Bedeutung eines Satzes oder Satzteiles hervorgehoben werden kann. Es wird meist durch ein spiegelverkehrtes Fragezeichen (U+2E2E) dargestellt.“ Fund! Als Quellen werden Alcanter de Brahm alias Marcel Bernhardt, Hervé Bazin und die niederländische Stiftung CPNB genannt. Als Belege für eine Verwendung des Ironiezeichens dienen Kurt Tucholsky, Christoph Markschies und Jean Méron. In den Quellennachweisen wird zwei Mal auf einen französischen Aufsatz von Jean Méron als PDF verwiesen, auf ein PDF mit Hinweisen auf Unicodes, zwei Links auf niederländische Sites und auf Makschies‘ Rede. Zwei Literaturhinweise für Bazin und Tucholsky finden sich noch fürs papierne Buch. Hm, das ist nicht gerade viel. Überprüfen kann ich damit nichts, Ansätze zum Weiterkommen sind das nicht.
Wikipedia-Diskussion
Ich schaue in die Diskussion zum Eintrag. Die eigentliche Auseinandersetzung mit dem Ironiezeichen beschränkt sich auf das Jahr 2007. Wobei es im Grunde lediglich darum geht, ob das Ironiezeichen für die Wikipedia relevant ist. Bis ins Jahr 2012 folgen weitere kleinere Einwürfe, doch nach Quellen fragt niemand. Schade, erhofft hatte ich mir Hinweise auf Jean Méron und die leider nur französisch hinterlegten Nachweise. Interessant scheinen die PDFs zu sein, doch mein Französisch reicht nicht, um den tieferen Sinn seiner Überlegungen zur Typographie zu erfassen. Wer ist eigentlich Jean Méron? Seine Schriften sind schließlich zentral für den Eintrag. In der Diskussion stört das niemanden.
Wer ist Jean Méron?
Ich googele erneut, diesmal Jean Méron. Ja, den gibt es. Auf Facebook, auf einer eigenen Website, bei Amazon. Alles auf Französisch. Interessiert sich in Deutschland keiner für ihn? Der Titel seines Aufsatzes klingt doch so verheißungsvoll: „EN QUESTION: LA GRAMMAIRE TYPOGRAPHIQUE“. Brauchbares finde ich nicht und gebe nach einer halben Stunde auf. Zurück zum Ironiezeichen und zu Google.
Wiederkäuerei
Beinah jeder Eintrag, egal ob in Pseudo-Nachlagewerken, in Blogs oder in Foren käut den Wiki-Eintrag wieder. Nichts Neues. Immer wieder Bernhardt, Bazin, Bernhardt, Bazin, Bernhardt, Bazin… Darf ein sozialmedialer Autor sich mit Wikipedia als Quelle zufrieden geben? Meine Antwort: Ja, wenn die Quelle genannt und mehr oder weniger ‚Beiwerk‘ ist. Nein, nicht ungeprüft als zentrales Thema. Wenn eine Information in der Form schon hundertfach vorliegt, sollte dies stutzig machen. Und nein, nein, wenn auch der Wikipedia-Eintrag irgendwie ‚unvollständig‘ erscheint. Und nein, nein, nein, wenn Wikipedia die einzige Quelle ist.
Wissen, noch nichts zu wissen
Dies ist keine Kritik an der Wiki. Es ist eine Kritik an der Vorstellung, eine einzige Quelle könnte ausreichen, um ein Phänomen umfänglich zu belegen. Ich suche in meinem Fall schließlich keine Angabe dafür, dass Bernhardt oder Bazin irgend etwas mit dem Ironiezeichen zu tun haben. Das wäre noch in Ordnung. Ich möchte wissen, woher das Ironiezeichen kommt, wer es erfunden oder wenigstens verwendet hat. Kurzum: Ich möchte dem Ironiezeichen auf den Grund gehen. Ich möchte keine wissenschaftliche Abhandlung verfassen, doch ein gewisses Maß an Information muss vorliegen, bevor ich es weitergebe. Bis jetzt weiß ich nichts: Weder habe ich es in einer Schrift des vermeintlichen Urvaters Bernhardt gesehen, noch bei Bazin und Niederländisch kann ich auch nicht.
Ein erster Fund
Gefühlt auf Seite 20 der Google-Suche finde ich etwas Brauchbares. In der taz titelt KRIKI im November 2012 „Schwachpunkt Ironie“ und zur Abwechslung beginnt die Geschichte nicht erst mit Bernhardt im 19. Jahrhundert. Hier lese ich vom englischen Drucker Henry Denham und dem „percontation point“, übersetzt als ‚der springende Punkt der Ironie‘, mit dem „rhetorische Fragen gekennzeichnet werden“. Weiter lese ich John Wilkins, Rousseau, Marcellin Jobard und ich erfahre im Text sogar noch, wer diese Menschen waren, wann sie mit dem Ironiezeichen zu tun bekamen usw. Und Bernhardt? Er wird hier als „dichterischer Plagiator“ entlarvt. Wußt ich’s doch! Nun, nur weil es mir ins Konzept paßt, muss es noch nicht richtig sein. Also, weiter geht es.
Google-Buchsuche
Der „percontation point“ hat es mir angetan. Was heißt nur ‚percontation‘. Leo.org weiß es nicht, Wort ist nicht bekannt. Hm. Ein Rückschlag. Doch: In einem Fremdwörterbuch von 1841 werde ich über die Google-Buchsuche fündig: „Percontation, Nachforschung, Erkundigung, per conto (ital.) auf Rechnung, durch Rechnung“. Immerhin.
Die englische Wikipedia
Weiter komme ich mit dem „punctus percontativus“. Die englischsprachige Wiki scheint in der „Akte Ironiezeichen“ um einiges schlauer und ausführlicher zu sein. Die Informationsschnipsel sprühen nur so, ich lese, klicke, überprüfe, sammel… bis sich ein Bild ergibt, bis alles irgendwie zusammen paßt. So weit zusammen paßt, dass ich nun anfangen würde, einen Blog-Beitrag über das fragliche Satzzeichen zu schreiben. Da ich inzwischen aber soweit vom Wege abgekommen bin, verweise ich nun auf den englischen Wiki-Eintrag. Auch wenn hier die Nachweise nicht lupenrein sind, finden sich doch genug Stichworte und Namen. Diese könnten nun als Sprungbrett für eine Recherche zum Thema herhalten.
Und?
Ich unke, dass der taz-Beitrag eine gewisse Ähnlichkeit mit dem englischen Wiki-Eintrag hat. Die Daten und (vermutlichen) Fakten stimmen überein. Doch dies spricht weder gegen Wiki noch gegen KRIKI. Ganz im Gegenteil, denn der Beitrag ist eben nicht nur eine Kurzfassung oder Übersetzung des Wiki-Eintrags. Die (journalistische) Leistung besteht eben im Recherchieren nach bestem Wissen und Gewissen, im Formulieren eines Beitrages aus den verfügbaren und geprüften Angaben. Und sei es, etwas zu sortieren und zu paraphrasieren und damit in eigene Worte zu fassen. Wobei ein Nachweis sicher angebracht wäre…
Kein Kommentar
Ein recht aktueller Beitrag von Nora Reinhardt ist etwa auf neon.de nachzulesen. Nach meinem Empfinden erinnert auch dieser an den taz-Beitrag und schließlich an die englische Wiki. Wenig Neues, doch halt, eine Interpretation darf ich festhalten: „Als Erfinder gilt heute aber der französische Dichter Marcel Bernhardt, weil er es schaffte, das ursprüngliche Ironiezeichen, das umgedrehte Fragezeichen, für sich zu beanspruchen und im renommierten Nachschlagewerk ‚Nouveau Larousse Illustre‘ unterzubringen.“ Soso.
Die Moral von der Geschicht
Mit meinem kleinen Ausflug möchte ich zeigen, dass es niemandem nützt, einfach aus der Wiki oder sonst woher abzuschreiben. Ich rede gar nicht vom Urheberrecht, von Plagiaten oder dergleichen. Nur weil gefühlt ‚alle‘ das Thema so angehen, muss es noch lange nicht richtig sein. Es fragt sich auch, wo dann der Mehrwert steckt. Sicher, niemand erfindet in seinem Blog das Rad neu, doch ‚aufräumen‘, systematisieren und sortieren kann viel bringen. In der „Akte Ironiezeichen“ hat dies bestimmt schon jemand getan, nur leider vielleicht nicht ganz suchmaschinenoptimiert (Thema für sich). Sollte jemand Lust auf einen Wiki-Eintrag haben – das Trümmerfeld ist bereit! Mag die „Akte Ironiezeichen“ auch nur eine Bagatelle sein, das was Anatol Stefanowitsch im Oxford English Dictionary zum ‚Shitstorm‘ gefunden hat, ist keine Kleinigkeit mehr. Auch nur ein Beispiel…
Boah, Frau, da warst du aber ganz schön hartnäckig!
Den Begriff „Ironiezeichen“ habe ich hier zum ersten mal gelesen. Ich hätte ihn bei meinem heutigen Blog sehr gut gebrauchen können, da hat sich jemand betupft gefühlt. Und dies, obschon die betreffende Person meinen Blog schon so lange mitliest, dass sie wissen müsste, dass ich alles mit Humor und Ironie würze. Tja, ein dünnhäutiger Leser weniger.
Hartnäckigkeit in Sachen Recherche: Alte Schule! 😉